Leseprobe 2 - Originalausgabe


Leseprobe 2
Aus dem Kapitel Unmögliches und unnötiges Wachstum

In der öffentlichen Diskussion wird häufig Wohlstandswachstum mit Wirtschaftswachstum verwechselt – ich vermute, weil im Wirtschaftswunder das eine eng mit dem anderen verknüpft war. Aber das Wirtschaftswachstum stellt nicht die Entwicklung des Besitzes der Menschen dar, sondern die Leistungsentwicklung. Die Wirtschaft muss nicht wachsen, damit der Wohlstand wachsen kann. Mit „Wachstum“ ist das Wachstum des Bruttoinlandsproduktes (BIP) gemeint. Angenommen, die jährliche Produktion läge nur etwas über der Abnutzung und dem Verlust an vorhandenen Gegenständen, so hätten wir ein beständiges Wachstum unseres Wohlstands – selbst bei zurückgehender Wirtschaftsleistung.

Würden wir die Langlebigkeit von Produkten und die Wirkdauer von Dienstleistungen mit möglichst geringem Aufwand erhöhen, so hätten wir einen erheblichen Wohlstandszuwachs erreicht. Warum gibt es tropfende Kaffeekannen, nachdem es schon einmal nicht-tropfende gab? Warum werden Kochtöpfe mit Kunststoffgriffen hergestellt, die nach einigen Jahren zerbröseln? Es gibt ständig Scheininnovationen, die mit durch neue Optik vorgetäuschtem höherem Nutzen vermarktet werden und dabei schlechter funktionieren als frühere Konstruktionen. Allein die Vielfalt erzeugt Umsatz und trägt somit zum Wachstum bei, stiftet aber keinen Nutzen.

Für ausentwickelte, etablierte Produkte wie Kaffeekannen und Kochtöpfe existiert das Expertenwissen, welche Lösungen haltbar und funktionstüchtig sind und welche weniger. Für derartige Produkte könnte der Staat der Industrie Vorgaben machen, was hierzulande verkauft werden darf. Dies stellt keine unzumutbare Bevormundung der Unternehmen dar: Erstens gibt es derartige Regelungen zuhauf: Anforderungen an die elektrische Isolation, an die Feuerbeständigkeit oder das Verbot von bestimmten Giftstoffen werden seit Jahrzehnten von der Industrie eingehalten. Es stellt einen Vorteil für alle dar: Die Industrie hat eine höhere Fertigungstiefe und damit mehr Gewinnmöglichkeiten, und der Kunde hat mehr Sicherheit im Haushalt. Zweitens benachteiligt dies kein Unternehmen, denn die Anforderungen gelten auch für ausländische Unternehmen, und inländischen Unternehmen ist es nach wie vor freigestellt, Schund für ausländische Märkte zu produzieren. Damit es nicht zu Verwerfungen in der Wirtschaft kommt, ist es entscheidend, dass für alle die gleichen Regeln gelten, nicht dass überall die gleichen Regeln gelten.

Schon die reine Messung anhand des Geldwertes stellt eine Verzerrung dar, da der empfundene Wohlstandszuwachs in den seltensten Fällen linear mit dem Preis einer Ware oder Dienstleistung zusammenhängen dürfte. Grundsätzlich gilt: Die reine Höhe des Bruttoinlandsproduktes hat wenig Aussagekraft, wenn nutzlose Produkte und Fehlkonstruktionen genauso gezählt werden wie erfolgreich verlaufene Herzoperationen. „Ein Wachstum des BIP muss […] nicht zwangsläufig einen Wohlstandszuwachs bedeuten. Ein rein quantitatives Wachstum erhöht zwar das Sozialprodukt und regt die Beschäftigung an, nimmt aber nicht unbedingt Rücksicht auf die soziale und natürliche Umwelt.“ (1)

Der Umsatz, den ein Unternehmen mit seinen Produkten erzielt, geht ins Bruttoinlandsprodukt ein. Nicht erfasst wird die mit der Herstellung verbundene Umweltverschmutzung, der langfristige Schaden an der Natur oder an der Gesundheit der Menschen. Das Bruttoinlandsprodukt ist stärker gewachsen als der Wohlstand.

Was unser Wirtschaftssystem den Kunden verkauft, bietet in vielen Fällen wenig Zusatznutzen für viel Material- und Geldumsatz bei viel Gewinn. Die Wirtschaft strebt nach Gewinnwachstum und nicht nach Wohlstandswachstum. Das heißt, dass es für Unternehmen je nach Enge der Kundenbindung wichtig oder auch zweitrangig bis egal sein kann, ob das bei Geschäftsabschluss Versprochene auch eintritt. Gelingt es Unternehmen, hohen Gewinn bei geringem Kundennutzen zu generieren, so besteht für sie keine Veranlassung, etwas daran zu verändern. Außerdem sind nicht alle Wirtschaftszweige auf Kundenbindung angewiesen, denn nicht überall wird Qualität vom Kunden hoch bewertet. In vielen Bereichen kauft ein Kunde nur einmal, und nicht alle Märkte sind vollständig transparent. Trotz vieler Skandale kauft der überwiegende Teil der Kunden immer noch Eier aus Käfighaltung – einfach weil sie billiger sind als Bioeier. Bei in anderen Produkten verarbeiteten Eiern, beispielsweise bei Nudeln, Kuchen, Gebäck und Pudding, spielt die Qualität gar keine Rolle mehr.

Jeder Unfall mit nachfolgender Beseitigung der Schäden bedeutet ein Wachstum des Bruttoinlandsproduktes, obwohl nur Verluste auftraten: an Ressourcen, an bestehende Produkten, Geld und eventuell sogar an der Gesundheit von Menschen. In den Jahren der Pkw-Abwrackprämie beispielsweise ist das BIP sicherlich gestiegen, während Unmengen von Sachwerten vernichtet wurden. Dasselbe gilt für Katastrophen, Krankheiten und auch für Kriege. Jedes Wegwerfen und Neuanschaffen von Gegenständen erzeugt bilanzielles Wachstum, während Sparen das Wachstum reduziert.

Ebenso trägt geplante Obsoleszenz positiv zum Bruttoinlandsprodukt bei, obwohl sie kaum ein Bürger als wohlstandsfördernd empfinden dürfte. Langlebigere Produkte sind für die Unternehmen weniger interessant als für die Konsumenten. Tätigkeiten ohne inneren Nutzen bewirken Wachstum, wenn sie bezahlt werden, zum Beispiel Transporte, während das Unterlassen dieser Tätigkeit negatives Wachstum bedeutet, obwohl es auch einen Nutzen hat, nämlich vermehrte Freizeit. Das gilt auch für die Globalisierung. Sie ist nur sinnvoll, wenn sie sich durch Effizienzsteigerung bei der Produktion rechtfertigen lässt.

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(1)  Wikipedia: Wirtschaftswachstum. https://de.wikipedia.org/wiki/Wirtschaftswachstum



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