Flyer "The Village"


Flyer "The Village" (2014)
In einem sonnenbeschienenen Tal voller Wiesen, das von Wald gesäumt war, lag an einem Bach ein kleines Dorf. Die Menschen lebten dort schon seit langer Zeit. Früher war das Leben hart gewesen, weil sie wenig zu essen hatten und Mangel an allen Dingen des täglichen Lebens herrschte.

Im Laufe der Zeiten hatten sie aber gelernt, den Boden zu bestellen. Gleichzeitig fingen sie an, sich zu spezialisieren. Es gab Bauern, einen Müller, einen Bäcker, einen Metzger, einen Schmied und alle anderen Handwerker, die zu einem Dorf gehören. Für alles, was benötigt wurde – egal ob Waren oder Dienstleistungen, gab es einen Fachmann. Außerdem gab es einen Bürgermeister, einen alten Mann, der viel Erfahrung hatte und der den Dorfbewohnern in schweren Zeiten mit Rat und Tat zur Seite stand und der Streitigkeiten schlichtete. Da er oft nicht die Zeit hatte, selbst für seine Ernährung zu sorgen, wurde er von den Dörflern mit Essen versorgt.

Durch ihren täglichen harten Einsatz, die gesammelte Erfahrung und die Spezialisierung gelang es ihnen in den meisten Jahren, mehr herzustellen, als benötigt wurde. Viele legten sich kleine Vorräte für schlechte Zeiten an.

Es begann mit Tauschhandel: Der Schmied beispielsweise beschlug die Pferde der Bauern neu und erhielt dafür Getreide oder Gemüse. Mit den zunehmenden Überschüssen verschönerten die meisten ihr Leben. Manche aßen mehr Fleisch, andere tauschten ihre erarbeiteten Güter gegen Hilfe beim Ausbau ihres Hauses. Andere hielten sich einfach größere Tierherden – vergleichbar damit, wie heute Leute ihr Geld auf einem Sparbuch anlegen oder es unter dem Kopfkissen horten.

Nachdem wiederum einige Jahrzehnte vergangen waren, hatte sich das Dorf so entwickelt, dass es einige besonders Wohlhabende gab. Manche von ihnen hatten sich ihren Wohlstand dadurch erarbeitet, dass sie besonders viel oder gut arbeiteten. Andere waren geschickt beim Tauschen und hatten so ihren Besitz vermehrt. Und manche waren durch Zufall wohlhabend geworden, beispielsweise weil sie in einem Jahr, in dem die Ernte schlecht ausfiel, noch besonders große Vorräte vom Vorjahr übrig hatten und diese nun gegen mehr andere Waren eintauschen konnten.

Und es gab einen, der von der Struktur der „Wirtschaft“ des Dorfes profitierte: Der Jäger war der einzige, der eine der Schusswaffen besaß, die erst vor wenigen Jahren erfunden worden waren. Weil die meisten urbaren Flächen im Dorf für den Anbau von Getreide und Kartoffeln benötigt wurden, gab es wenige Wiesen, auf denen Kühe oder Schafe weiden konnten. Dadurch gab es für die Dorfbewohner auch wenig Fleisch zu essen. Deshalb konnte der Jäger das geschossene Wild immer gegen besonders viele oder besonders wertvolle Waren eintauschen. Es dauerte nicht lange, und die Familie des Jägers bewohnte das schönste und größte Haus am Waldrand.

Wieder einige Jahrzehnte später gab es neben den normalen Dorfbewohnern zwei reiche Familien. Ursprünglich hatte es sechs wohlhabende Familien gegeben. Aber zwei hatten durch schlechte Ernten das Gewonnene wieder verloren, eine Ehe war kinderlos geblieben und der Hof nach dem Tod der Leute verfallen, und zwei weitere Familien auf benachbarten Höfen waren durch Heirat zu einer Großfamilie verschmolzen. Den beiden verbliebenen reichen Familien gelang es, ihr Vermögen weiter zu vermehren. Sie konnten auf ihren Höfen fast alles herstellen, und aufgrund ihres Besitzes galten sie als zuverlässigere Tauschpartner als andere, die aus Not schon manchmal betrogen hatten. Die beiden Familien besaßen bald noch weitere Häuser im Dorf und einige Jahre später auch im Nachbardorf.

Die beiden reichen Familien versuchten ihren Besitz weiter zu mehren. Im Nachbardorf hinter den Hügeln hatten sie zwei weitere Bauernhöfe übernehmen können, indem sie ihr Getreide billiger hergaben als diese beiden Bauern. Denn sie hatten ja ausreichend große Vorräte, so dass es nicht darauf ankam. Es hatte zwar zwei Jahre gedauert, aber dann kamen die beiden Bauern zu ihnen und boten ihre Höfe im Tausch gegen Getreide und einige Schweine an. Im Jahr darauf fiel die Ernte wieder einmal schlecht aus, und auch in unserem Dorf tauschten einige Bewohner ihre Häuser gegen Essen ein und boten in Zukunft ihre Dienste gegen Nahrung bei den beiden großen Familien an.

Es dauerte noch einige Jahre, aber irgendwann besaßen die beiden reichen Familien mehr als die Hälfte ihres Dorfes. Die Lebensbedingungen wechselten mit den jeweiligen Familienoberhäuptern: Während der letzte Hausherr noch großzügig bei der Essensvergabe an seine Angestellten war, war sein Sohn nun wesentlich knauseriger. Zudem war er auf die Idee gekommen, die Angestellten könnten sich ihre Zimmer in den Häusern, die ihnen früher einmal selbst gehört hatten, anders aufteilen. Wenn man das geschickt mache, ließe sich ein ganzes Haus einsparen, das man dann als Gasthof für die Durchreisenden nutzen könne. Das täte dem Dorf gut, denn die Reisenden brächten ja auch neue Güter in die Stadt.

Zu diesem Zeitpunkt war der Bürgermeister mit den Vorgängen in seinem Dorf nicht mehr einverstanden und wollte sich für die Ärmeren einsetzen. Um dieses Zusammenpferchen der Menschen zu verhindern, suchte er den Familienvorstand der reichen Familie auf und redete lange mit ihm. Dabei wurde ihm klar, dass auch seine Macht begrenzt war. Da den beiden Familien mehr als die Hälfte des Dorfes gehörte, konnten sie die Tauschverhältnisse für alle Waren bestimmen. Wehe dem, der sie zu unterbieten versuchte – der wurde ausgeräuchert. Bei manchen Waren hatten sie sogar beinahe ein Monopol – man konnte ja schließlich nicht alles aus dem Nachbardorf herschaffen, weil das jedes Mal eine Tagesreise bedeutet hätte. Abgesehen davon erhielt der Bürgermeister sein Essen immer noch von den Dorfbewohnern. Und da den beiden reichen Familien jetzt die Hälfte gehörte, erhielt er sein Essen auch zur Hälfte von ihnen. Das wurde ihm in diesem Gespräch unmissverständlich klargemacht. Wenn er weiter mehr als nur Getreidebrei mit Wasser essen wolle, solle er sich etwas kooperativer zeigen. Man werde auch versuchen, den Umzug der Angestellten so angenehm wie möglich zu gestalten, aber ein Kompromiss sei unvermeidlich – der Umzug könne nicht grundsätzlich in Frage gestellt werden.

Da fiel einem Dorfbewohner, einem sehr alten Mann von fast hundert Jahren, ein, wie das Leben früher gewesen war. Früher hatten sie gehungert, dann wurden die Zeiten besser, und jetzt hungerten sie wieder. Die Zeiten waren ja jetzt besser als früher – nur nicht für alle. Das schrieb er viele Male auf kleine Zettel und verteilte sie an die anderen Dorfbewohner.
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